Mitarbeiter der Notschlafstelle im Gespräch

Ein Gespräch zwischen Vater und Tochter über Niederschwelligkeit, das Gefühl von Kompetenz und die Rolle von Humor in der VinziRast-Notschlafstelle

Judith: Du und ich, wir beide sind ein Vater-Tochter-Duo und plaudern heute ein wenig über die „Niederschwelligkeit“ im Zusammenhang mit der VinziRast-Notschlafstelle. Wir haben auch schon Nachtdienste zusammen gemacht, zurzeit bist du einmal die Woche im Nachtdienst. Niederschwelligkeit bedeutet, dass der Zugang zu einem Angebot ohne große Hürden möglich sein soll. Was heißt das konkret für dich?

Roman: Jeden Gast mit einem Vorschuss an Vertrauen und herzlich zu empfangen und dass die Möglichkeit, bei uns einen Schlafplatz zu bekommen, sehr einfach ist. Gäste checken bei uns ein und müssen mit unseren gängigen Hausregeln einverstanden sein. Es bedeutet auch die Bereitschaft, in einem Raum mit vielen anderen Menschen jeglicher Herkunft und Hintergründe die Nacht zu verbringen.

Judith: Niederschwelligkeit soll möglichst gezielt und unmittelbar ansetzen. Was sind Beispiele für „unmittelbare Hilfe“, bei denen man das Gefühl hat, jetzt kann man rasch reagieren? Mir fällt da sofort ein, wenn wir die Kleiderausgabe machen. Wir haben einen großen Vorrat an den wichtigsten Stücken in der VinziRast. Ich mag das, wenn die Menschen etwas brauchen und ich ihnen vielleicht sogar zwei Dinge anbieten kann, und sie können selbst entscheiden. Das hat ein bisschen etwas von Normalität.

Roman: Neben materiellen Bedürfnissen denke ich auch an Information. Da können wir Wissen für die weitere Vorgehensweise anbieten, da wir oft die erste Anlaufstelle sind.
Was kann ich jetzt noch machen? Wo kriege ich eine ärztliche Untersuchung?
Wir können Stellen mit einer ähnlichen Niederschwelligkeit nennen und auch ein bisschen die Furcht nehmen

Judith: Menschen sollen ja ohne aufwendige Hürden Angebote bekommen. Heißt das, es gibt gar keine „Schwelle“ mehr? Und haben die Schwellen, die noch da sind, auch etwas Gutes?

Roman: Die Niedrigschwelligkeit wird dort begrenzt, wo wir Gäste, die bereits hier sind, schützen, damit der Raum für alle ein Sicherer bleibt. Diese Entscheidung ist definitiv die schwierigste, da man in kürzester Zeit darüber entscheiden muss, ob Menschen bleiben können.

Judith: Eine andere Schwelle sind auch Zeit und Ort. Die Menschen müssen zu einer bestimmten Zeit einchecken und in der Früh wieder gehen. Ich denke, das gibt eine Art Handlungsrahmen: Man kommt am Abend zur VinziRast, checkt ein, ist zu einer bestimmten Uhrzeit da, hat einen Ablauf. Ein Ritual und eine Organisiertheit, die manchen Gästen vielleicht gut tut.

Roman: Hier gilt der Grundsatz: So viele Regeln wie nötig, so viel Freiheit wie möglich.

Judith: Aber das heißt nicht, dass die Menschen vor lauter Niederschwelligkeit gar nichts mehr selbst entscheiden können. Inwiefern sind die Menschen handlungsfähig?

Roman: Die Selbstständigkeit ist 100% gegeben. Die Menschen sind für ihr Bett und ihre Sachen verantwortlich, sie können auch entscheiden, jederzeit wieder zu gehen.

Judith: Was ja auch vorkommt. Die Gäste entscheiden auch selbst, inwiefern sie den Kontakt suchen. Manche wollen mit uns reden und suchen viel Gespräch, manche wollen das gar nicht. Als Vater und Tochter habe ich gemeinsame Dienste persönlich als sehr bereichernd erlebt, da sich für mich die Umgebung automatisch vertrauter anfühlt, wenn du da bist. Wo siehst du denn die Rolle von Beziehungsarbeit, Kommunikation oder Vertrauen? Hat das genug Platz?

Roman: Das hängt ein bisschen vom Dienst und dem Tag ab. Manchmal ist der Andrang groß, da bleibt nicht viel Zeit. Ich würde aber allgemein sagen, dass ich nicht so der kommunikative Typ bin, aber immer bereit für so eine Art gut gemeintes „Anklopfen“, ein kleines Scherzerl, wie wir sagen.

Judith: Das ist ein super Beispiel. Ich finde, Humor ist der kürzeste Weg, eine Verbindung zueinander aufzubauen.

Roman: Sprache ist manchmal leider eine Barriere, und da bleibt einem Humor als mögliches Mittel zur Beziehung – unabhängig von der Sprache.

Judith: Man steht ganz oft vor drängenden Entscheidungen und einzigartigen Situationen vor dem Hintergrund der Regeln, die es für das Gemeinsame gibt. Wie transparent bist du da in der Kommunikation?

Roman: Auch wenn der Zugang sehr niederschwellig ist, bin ich doch bemüht, den neuen Gästen unsere wenigen Regeln näherzubringen, wie etwa Nachtruhe, zeitlicher Rahmen, Umgang miteinander etc.

Judith: Kommt es bei dir auch vor, dass du sagen musst: „Ich weiß es gerade nicht“?

Roman: Ich glaube, da bin ich sehr schnell im Entscheiden. Ich bin transparent in dem, dass ich es sofort mitteile, wenn ein Verhalten für die gesamte Gruppe der Gäste nicht passt.

Judith: Kannst du kurz erzählen, wie die täglichen Entscheidungen getroffen werden?

Roman: Jede Entscheidung ist eine Teamentscheidung, zusammen mit den zwei Nachtdiensten und einem Abenddienst.

Judith: Ich bin oft sehr dankbar für die Erfahrung, die Freiwillige mitbringen, die schon länger dabei sind. Das ist auch wichtig, da man als Team die Entscheidung über den Dienst hinweg tragen muss und auch wirklich dahintersteht. Schwierig wird es immer dann, wenn man in einzigartigen Situationen vielleicht nicht sofort einer Meinung ist; da muss man sich dann austauschen.

Roman: Die Entscheidung ist immer das Wohlbefinden für die Gesamtheit der Gäste, aber es gibt auch Grenzfälle, die unsere Kompetenz und Ressourcen als Ehrenamtliche überschreiten, z.B. medizinische Angelegenheiten.

Judith: Fühlst du dich da „kompetent“?

Roman: Du hast mich damals motiviert, mir das mal anzuschauen. Du warst da wie ein Türöffner. Und dann wächst man ein bisschen rein. Auch durch die Kombination im Dreierteam und die Unterlagen kann man sich schnell zurechtfinden. Insofern ist auch die Mitarbeit für Freiwillige sehr niederschwellig. Wenn Situationen darüber hinausgehen, hilft es mir, mich zu erinnern, dass wir eine Notschlafstelle sind, also eine erste Anlaufstelle, die nicht jede Not sofort lindern oder beheben kann. Ich glaube, mir ist Sicherheit wichtiger. Ich habe noch nie darüber nachgedacht, ob ich gut genug bin. Durch mein Berufsleben bin ich es gewohnt, dass ich mich Problemen stellen und selbst Lösungen finden muss.
 

Judith: Ich stelle mir die Frage „kompetent genug?“ schon oft, vielleicht ist das eine Generationensache oder hat mit meiner Persönlichkeit zu tun. Vielleicht können wir das Ganze anders sehen: Kompetenz in der Menschlichkeit. Das versuche ich mir vor Augen zu halten. Wir sind keine ausgebildeten Sozialarbeiterinnen, aber wir können authentisch und menschlich mit Wärme handeln. Das ist auch eine Art von Kompetenz und ich finde, das trifft auch gut auf dich zu.

Roman: „Der weiß, wovon er redet.“ Das ist Kompetenz für mich. Verbunden mit einer inneren Ausgeglichenheit, und das Gegenüber spürt das.

Judith: Man darf vertrauen, dass man immer die nötige „menschliche Kompetenz“ einbringen kann. Niederschwelligkeit kann auch bedeuten, möglichst ohne Erwartungen oder große Bedingungen an die Sache ranzugehen. Gibt es Momente, in denen es dir schwerfällt, Menschen mit derselben Offenheit und vorurteilsfrei zu begegnen?

Roman: Ich ertappe mich oft dabei, dass ich zu Menschen mit einem Suchtproblem im Zusammenhang mit Alkohol schwerer Zugang finde. Weil der eigene Zugang zur Persönlichkeit verwischt und sich auch körperliche Folgen zeigen. Der Kern davon ist, dass ich schwerer Zugang zu dem liebenswerten und beziehungssuchenden Menschen finden kann, der er eigentlich ist.

Judith: Wie löst du das dann?

Roman: Das muss sich nicht lösen, das bleibt ein innerer Konflikt. Aber dafür hat man ja auch immer ein Team um sich, mit dem man sich absprechen kann.

Judith: Hast du das Gefühl, die VinziRast ist ein vorurteilsfreier Ort?

Roman: Ob er vorurteilsfrei ist, kann ich von außen nicht beurteilen, aber meine begrenzte Beobachtung ist, dass alle Anstrengungen in diese Richtung laufen. Es besteht das Bestreben, so ein Ort zu sein. Ich habe das mal irgendwo gelesen, dass man einen „richterlichen Blick“ haben sollte, aber nicht im Sinne, dass ich gleich verurteile, also „richte“, sondern das bedeutet, wie ein Richter erstmal so vorurteilsfrei wie möglich Informationen aufzunehmen, gut zuzuhören und DANN eine Entscheidung zu treffen.

Judith: Da ertappt man sich immer wieder selbst dabei, aber in der Begegnung mit Menschen kann sich da schon viel verändern. Was hat dich denn zu Beginn am meisten überrascht an der VinziRast?

Roman: Erstaunlich, dass wir jeden Tag drei Freiwillige finden, die 365 Tage im Jahr Menschen ein Stück Wärme und Menschlichkeit zeigen wollen.

Judith: Und ich freue mich auf unseren nächsten gemeinsamen Dienst!

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